
Von Janina Lionello
Angst um den eigenen Job, Sorge um den Wirtschaftsstandort: Am Mittwochnachmittag sind knapp 400 Menschen in Leuna in Sachsen Anhalt zu einer Kundgebung zusammengekommen, um auf die Probleme der für die Region so wichtigen Chemieindustrie aufmerksam zu machen. Pleiteticker.de war vor Ort und hat mit den Menschen gesprochen.
„Wenn ein Betrieb hier kaputtgeht, gehen andere Betriebe auch kaputt. Dann würde ein großes Sterben in der Chemieregion passieren, viele Arbeitsplätze würden verloren gehen. Darum stehe ich hier”, sagt Bernd Seidel. Seidel ist Anlagenfahrer bei Xentrys Leuna, einem Unternehmen, das verschiedene chemische Produkte wie Schmierstoffe und Beizmittel herstellt.
An diesem Mittwochnachmittag trägt er eine gelbe Neonweste und steht in einer Gruppe mit drei Männern auf dem Haupttorplatz in Leuna. Um sie herum knapp 400 Menschen, die ebenfalls zur Kundgebung der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IGBCE) gekommen sind, um auf die Probleme der Chemieindustrie in der Region aufmerksam zu machen. Viele von ihnen schwenken Gewerkschaftsfahnen, lassen Ratschen rattern, pusten in Trillerpfeifen.
Was Seidel beschreibt, ist das Szenario, das der Region droht, wenn eines der vielen Unternehmen, die im Chemiepark Leuna angesiedelt sind, wegbrechen würde. Denn alle hier sind aufeinander angewiesen, wie Zahnräder greifen die Produkte ineinander. Würde ein Unternehmen wegbrechen, würde das mit großer Wahrscheinlichkeit das Aus für alle bedeuten. „Wenn ein Dominostein fällt, dann fallen alle. Ganz viele Leute würden ihren Job verlieren”, beschreibt Kathleen Kollditz die Situation. Kollditz ist Laborantin bei Domo Chemicals, einem Unternehmen, das auf die Herstellung von Polyamid, einem Grundstoff der Textil- und Plastikindustrie spezialisiert ist. Ein Arbeitsplatzverlust würde sie hart treffen. „Ich bin Hausbesitzerin, muss einen Kredit abbezahlen. Für mich bedeutet mein Job Wohlstand, hier ist meine Heimat, ich bin hier verwurzelt. Meine Arbeit macht mir wirklich Spaß und ich möchte nicht irgendwo anders neu anfangen.”



Gemeinsam mit ihrem Kollegen Mike Täubig, der als Anlagenfahrer arbeitet, ist sie zur Kundgebung gekommen. Auch Täubig blickt mit Sorge in die Zukunft. „Man hat Angst um seinen Job, die Ungewissheit, was passiert. Alle Preise gehen nach oben, aber der Lohn natürlich nicht. Die Inflation wird immer größer und keiner weiß mehr, was er sich nächstes Jahr noch leisten kann.”
Die Probleme der Chemieindustrie in Leuna sind der aktuellen Energiekrise geschuldet, und sie sind gravierend: Hohe Preise belasten die energieintensive Produktion der Unternehmen. Hinzu kommt: Gas und Rohöl werden nicht nur für die Energieversorgung benötigt, sondern auch für die Produktion selbst. Insgesamt sind in Ostdeutschland nach Branchenangaben etwa 54.500 Menschen in der Chemie- und Pharmaindustrie beschäftigt.
Prominenter Redner des Nachmittags war der stellvertretende Vorsitzende der IGBCE, Ralf Sikorski. Gegenüber Pleiteticker.de mahnte er die Dringlichkeit an, der Branche jetzt zu helfen. „Wir sind in einer der schwersten Krisen der Nachkriegsgeschichte und alles, was jetzt langfristig an Industrie verloren geht, ist dauerhaft verloren. Wenn wir Wohlstand sichern wollen für die Zukunft in diesem Land, ist es unabkömmlich, dass jetzt alle an einem Stang ziehen, sonst ist der Wohlstand für junge Menschen in diesem Land verloren.”
Ein weiterer Mitarbeiter von Domo Chemicals, der an diesem Nachmittag auf dem Halltorplatz steht, macht auf eine weitere besorgniserregende Entwicklung aufmerksam, die durch die aktuelle Krise zusätzlich verstärkt werden könnte: „Wir merken, dass viele Produkte aus China nach Europa kommen, teilweise auch aus Russland oder USA, und günstig verkauft werden. Dagegen haben wir keine Chance.”


