Über 100.000 WhatsApp-Nachrichten zwischen britischen Ministern und Experten geben einen Einblick in die Corona-Politik Großbritanniens. Die gesammelten Daten werfen ein äußerst fragwürdiges Bild auf die Pandemiebewältigung im Vereinigten Königreich.

Über 100.000 regierungsinterne WhatsApp-Nachrichten hat der Telegraph erhalten und ausgewertet. Die Daten sind nun unter dem Titel „Lockdown-Files“ bekannt geworden und sie bieten einen schockierenden Blick in die britische Corona-Politik. In mehreren Artikeln will der Telegraph die Enthüllungen öffentlich machen. Thema der ersten Beiträge ist vor allem die Testpolitik der britischen Regierung, insbesondere des Gesundheitsministers Matt Hancock und der Umgang mit den Pflegeheimen
Die Files legen dar, wie schwankend und von der Tagespolitik abhängig die Corona-Politik im Vereinigten Königreich war. Zunächst war die britische Regierung hin und hergerissen zwischen einem moderaten schwedischen Modell und einem restriktiveren Mitteleuropäischen Kurs, wie er vor allem in Kontinentaleuropa eingeschlagen wurde.
Die Briten entschieden sich am Ende für letzteres. „Testen, Verfolgen, Isolieren“, hieß es fortan im Inselstaat. Damit einher ging eine massive Test-Kampagne, die von der britischen Regierung veranlasst wurde. Dem britischen Gesundheitsminister ging es dabei jedoch offenbar weniger um einen konkreten Nutzen für die Bevölkerung, sondern viel mehr um gute Presse und das Erreichen selbst gesteckter Ziele. 100.000 Tests pro Tag wollte Hancock bis Ende April erreichen. Vorschläge von Kabinettsmitgliedern und externen Experten hat er regelmäßig ausgeschlagen. Bei einer Pressekonferenz erklärte Hancock später, dass er das Ziel von 100.000 Tests pro Tag tatsächlich erreicht habe. In Wahrheit wurde die Zielvorgabe jedoch nie erfüllt. Hancock habe stattdessen mit statistischen Tricks gearbeitet, geht aus den Nachrichten hervor.
Dass ist jedoch nicht der eigentliche Skandal. Wie die vom Telegraph publizierten „Lockdown-Files“ darlegen, verzichtete Hancock auf großflächige Tests in Pflegeheimen. Der Grund: Hancock wollte sein Ziel von 100.000 Tests pro Tag erreichen. Die massenhafte Testung von Personen in Pflegeheimen stand diesem Ziel eher im Weg.
„ICH WILL MEIN ZIEL ERREICHEN“
Am 8. April schrieb Helen Whateley, heutige und damalige Sozialministerin: „Beispiele aus anderen Ländern legen nahe, dass wir alle Bewohner von Pflegeheimen und deren Mitarbeiter testen sollten, unabhängig davon, ob sie Symptome aufweisen oder nicht.“ Hancock antwortete: „Ich bin auch dafür und die Kapazitäten, das umzusetzen, steigen schnell.“ Doch nur kurze Zeit später änderte Hancock seine Meinung. Am Abend des 14. April erklärte er gegenüber Chris Witty, dem leitenden Gesundheitsbeamten: „Na gut. Sag mir, wenn ich falsch liege, aber ich würde […] lieber nur ALLE zu Tests verpflichten, die aus Krankenhäusern kommen. Ich glaube, großflächigere Tests bringen keinen Mehrwert und stiften nur Verwirrung. Leg dir das als Antwort parat, falls jemand fragt.“
Der Grund für Hancocks ablehnende Haltung gegenüber massenhaften Tests in Pflegeheim wird in Nachrichten deutlich, in denen ein Stabsmitarbeiter ihn auffordert in Pflegeheimen mit Corona-Ausbrüchen auch asymptomatische Patienten und Mitarbeiter zu testen. „Wir schätzen, dass dafür ca. 60.000 Tests in den nächsten zehn Tagen fällig werden“, heißt in der WhatsApp-Nachricht.
In seiner Antwort erklärt sich der britische Gesundheitsminister: „Das ist ok, aber nur, solange es meinem Ziel, die Testkapazität für die Bevölkerung auszuschöpfen, nicht im Weg steht“. Durch verpflichtende Tests in Pflegeheimen sah Hancock seine Zielmarke von 100.000 Testungen pro Tag gefährdet.
Durch die Weigerung großflächige Testungen in Pflegeheimen durchzuführen hat Hancock wohl das Leben tausender aufs Spiel gesetzt. „ICH WILL MEIN ZIEL ERREICHEN“, schrieb er in einer Nachricht an einen Kollegen. Dafür war er bereit einiges zu opfern. Für eine gute Presse wurden Kapazitäten für Personen verbraucht, die nie gefährdet waren.