
Von Elisa David.
Bereits seit Ende September haben Existenzsorgen drei kleine Geschäfte in einer kleinen unbedeutenden Straße von Lübeck dazu getrieben, regelmäßig tageweise zu schließen. Eine Meldung, die es maximal in die Lokalpresse schafft. Ist doch schließlich nichts groß dabei, oder? Sie machen einen Tag mehr zu, ist ja nicht so, als ob sie ganz pleite gehen. Hören halt für einen Tag auf zu arbeiten.
Betroffen sind drei Läden in der Helmholzstraße, Stadtteil St. Jürgen: ein Kiosk, ein Bäcker, ein Friseur. Die Lübecker Lokalpresse hat sie besucht, hat sich ihre Sorgen angehört. Dann haben sie Olivia Kempke, Sprecherin des örtlichen Wirtschaftsverbandes Lübecker Management gefragt. Die hat dazu nichts zu sagen, außer: „Es mag durchaus den einen oder anderen Bäcker oder Friseur in Lübeck geben, der angesichts der Energiekrise zusätzliche Schließtage einführt. Aber unseres Wissens nach gibt es keinen diesbezüglichen Konsens in Gastronomie oder Einzelhandel.“ Die kleine Straße in Lübeck bleibt ein Einzelfall, nicht mal wichtig genug, dass die Lokalpresse weiter nachhakt. Und „Konsens“ gibt es ja auch keinen. Stattdessen betont Kempke: „Früher zu schließen oder später zu öffnen, könnte aus unternehmerischer Sicht in der Energiekrise durchaus sinnvoll sein“, sie wolle Lübecker Geschäftsleute dahingehend beraten.
Die wahre Ausmaß der Katastrophe ist in Lokalzeitungen versteckt
Also war es das damit? Nicht für mich. Ich kann mich gut an die Helmholzstraße erinnern. Jeden Morgen lag sie auf meinen Weg zur Grundschule, hin und zurück. Morgens habe ich extra einen Umweg gemacht, um an dem kleinen Kiosk vorbeizugehen um die Zeitungsüberschriften zu lesen, die da am Kiosk ausgestellt wurde. Auf dem Heimweg habe ich meine paar Cent Taschengeld für Gummibärchen-Tüten ausgegeben, die man sich dort selbst zusammenstellen konnte. Ich glaube zwar, dass ich da schon ein bisschen abgezogen wurde, der Centbetrag für die Riesenschlümpfe kam mir damals wie ein kleines Vermögen vor. Heute, zur Zeit von Inflation und Preisexplosion, gibt es vielleicht schon Kinder, die Centbeträge gar nicht mehr kennen. Zu dem Bäcker nebenan wurde ich früher als Kind geschickt, um Brötchen zu kaufen, am Wochenende durfte ich mir und meinem kleinen Bruder sogar noch ein Croissant für 80 Cent mitbringen. Für uns etwas ganz besonderes.
Auf dem Weg zur Schule habe ich hier jeden Morgen die gleichen Gesichter gesehen: die alten Herren, die stundenlang vor dem Bäcker saßen und Zeitung lasen, nebenan die älteren Damen mit Haarfärbemittel und Alufolien im Haar, die vor dem Friseur nebenan mit einer Klatschzeitung auf die Friseurin warteten. Jeder, der Großstädte mehr wie Metropolen kennengelernt haben, würden an diesen kleinen Läden einfach vorbei laufen, sie gar nicht wahrnehmen. Für mich als Kind war das die Helmholztraße die Einkaufsstraße des Stadtteils. Eine Schneiderei, daneben der kleine Kiosk, die Bäckerei, ein Friseur, die Kneipe, vor der immer Hunde gewartet haben, ein Supermarkt. Früher war da, wo heute Wohnungen stehen, ein kleiner Schlecker. Wenn man mal einen richtigen Großeinkauf machen musste, ist man in die Innenstadt gefahren, doch solange gab es hier alles, was man brauchte.
Der Winter kommt erst noch
Von weitem versteht man kaum, was so kleine Dinge für Menschen bedeuten können. Doch gerade für die älteren Herrschaften in der Umgebung ist der Kiosk mit den Zeitungen und der Lotterie und der Bäckerei daneben das Zentrum ihres Alltags. Einen Tag in der Woche werden sie morgens ganz alleine frühstücken, weil ihr Bäcker geschlossen hat. Vielleicht darauf warten, dass ihre Enkel mal anrufen. In direkter Umgebung gibt es hier keine Bäckereien, auf die sie mal eben ausweichen könnten. Wir haben uns über die Coronazeit abgewöhnt, über das absolute Minimum hinaus zuschauen. Wer überhaupt noch in ein Café gehen will, muss dafür schon eine gute Argumentation mit Abwägung der Grundrechte aller Mitbürger vorlegen können. Dabei sollte man sich nicht nicht dafür rechtfertigen müssen, weshalb man noch zum Friseur geht – und sei es, weil man sich mit seinen nachgefärbten weißen Löckchen einfach mal wieder hübsch machen möchte.
Und: Wir haben gerade mal Oktober. Die Temperaturen sind noch weit vom Nullpunkt entfernt, die Heizung noch lange nicht voll aufgedreht. Was mit einem Tag anfängt, hat noch den Rest des Herbstes und den ganzen Winter Zeit, sich als böses Omen für kältere Zeiten zu entpuppen. Dann wird die kleine Straße in Lübeck vielleicht ganz leer stehen. Das hat man ja nicht ahnen können, wird man dann sagen. Das ist doch schließlich nur ein Einzelfall.
Bei Pleiteticker.de haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, das wahre Ausmaß der Pleitewelle abzubilden. Dazu gehören aber nicht nur Konzerne, die wir alle kennen, über die alle berichten. Wer die Wahrheit abbilden will, für den darf keine Geschichte zu klein sein. Damit sie nicht lautlos auf Seite 4 der Lokalpresse verschwinden – und mit ihnen das große Bild, das sich ergibt, wenn man die kleinen Puzzleteile zusammensetzt.